English | Italiano

Balz Trümpy

Luciano Berio als Lehrer und Freund

Luciano Berio war kein Lehrer im konventionellen Sinne. Obwohl er eine sehr kommunikative Seite hatte und auch am Austausch von Ideen interessiert war, hatte er keinerlei Bedürfnis nach methodischer Vermittlung und nach didaktischem Aufbau. Trotzdem habe ich von keinem Lehrer so viel gelernt wie von ihm. Da ich nach Abschluss meiner Studien als Pianist, Musiktheoretiker und Komponist bereits einen gewissen eigenständigen Stil entwickelt hatte, kam mir seine Art, musikalische, philosophische und allgemein menschliche Inhalte zu vermitteln, sehr entgegen. Ich erinnere mich an unser erstes Zusammentreffen in einem Hotel in Paris. Ich hatte Berio einige meiner Stücke gegeben, die er nun kommentierte, und zwar nicht als Lehrer, sondern als erfahrener Kollege. Einige seiner Bemerkungen begleiten mich bis heute. Sie betrafen kunterbunt alle Bereiche, von der Notation über die instrumentale oder stimmliche Ausführung, die „Dimensionalität“ (das Verdikt „eindimensional“, welches er hie und da gebrauchte, war für mich das Schlimmste, was er zu einem Stück sagen konnte) bis zur Frage, was ein Stück „bedeutet“. Am Wichtigsten war ihm aber, dass ich die klassische Instrumentation beherrschte, denn letztlich ging es ihm nicht darum, einen Schüler zu finden, sondern er suchte einen Assistenten, der ihm half, Skizzen in Partitur zu übertragen, Stücke umzuarbeiten, Instrumentationen aus einem Ablauf zu entwickeln etc. Als sein Assistent habe ich natürlich nicht nur sehr viel Praxis gewonnen, sondern konnte auch einen tiefen Einblick in die Denk- und Fühlweise eines der grössten Komponisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewinnen. Dass aus dieser Zusammenarbeit auch eine Freundschaft entstanden ist gehört zu den schönsten Erfahrungen meines Lebens.

Zu Beginn unserer Zusammenarbeit gab er mir einige konkrete Anweisungen zu dem Stück, das dann sozusagen meine „Meisterarbeit“ geworden und ihm gewidmet ist: Libera (1975) für acht Stimmen und Synthesizer. Das Wichtigste waren für mich aber Berios kurze, oft im alltäglichen Leben hingeworfene Bemerkungen, wie etwa die folgende: „Wenn in einem Drama im vierten Akt jemand erschossen wird, dann muss die Pistole bereits im ersten Akt herumliegen“; oder: „Mich interessieren nicht die musikalischen Zustände A und B, sondern wie ich von A nach B komme“.

Ich erinnere mich an eine Zugfahrt von Rom nach Neapel, wo er mir in wenigen Worten das Prinzip „Minus – Null – Plus“ erklärte, welches er zum ersten Mal in der Sequenza I für Flöte angewendet hatte. Diese „Lektion“ befreite mich mit einem Schlag vom Zwangkorsett des Serialismus. Solche „Flashs“ gaben mir jeweils die Möglichkeit zu einer ruckartigen Einsicht in das Wesen des Komponierens und der Musik überhaupt, obwohl ich – mit Ausnahme vielleicht des erwähnten Libera – nie Berios Stil nachgeahmt habe. Ich fühle mich ihm eher verpflichtet in seiner Auffassung von Musik als etwas Menschlichem in einem humanistischen Sinn und in seinem Glauben an ihre tiefe Verankerung in der Seele des Menschen, die er auch in seinem bunten und ganz von der Musik geprägten Leben verkörperte.

Balz Trümpy
Nuglar, im Mai 2013

Trümpy.jpg

Luciano Berio con Martine e Balz Trümpy, Radicondoli, 4 novembre 1995 (archivio privato)